M. Heiniger: Der mündige Bürger.

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Titel
Der mündige Bürger. Politische Anthropologie in Jeremias Gotthelfs Bildern und Sagen aus der Schweiz


Autor(en)
Heiniger, Manuela
Erschienen
Hildesheim 2015: Olms Verlag - Weidmannsche Verlagsbuchhandlung
Anzahl Seiten
444 S.
von
Künzler Lukas

Das literarische Werk, die amtlichen Tätigkeiten, das pädagogische und politische Engagement sowie das Wirken als Pfarrer von Albert Bitzius (1797–1854) – besser bekannt unter seinem Pseudonym Jeremias Gotthelf – sind in den letzten Jahren wieder in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung gerückt. Einen bedeutenden Anteil daran trägt die neue Historisch-kritische Gesamtausgabe (HKG) seiner Werke, Predigten und Briefe, die seit 2004 an der Universität Bern entsteht. Aus diesem Projekt ist die Dissertation von Manuela Heiniger hervorgegangen, die 2015 unter dem Titel Der mündige Bürger. Politische Anthropologie in Jeremias Gotthelfs «Bildern und Sagen aus der Schweiz» im Olms­Verlag erschienen ist. Der Textkorpus der Studie setzt sich entsprechend dem Titel aus den Erzählungen Der letzte Thorberger, Sintram und Bertram, Der Druide, Die schwarze Spinne und Geld und Geist zusammen.

Als Pfarrvikar und Pfarrer ebenso wie als Schriftsteller hatte Gotthelf den liberalen Aufbruch von 1830/31 nicht nur mitgetragen, sondern auch kritisch verfolgt. Die Arbeit geht der Frage nach dem Verhältnis von Freiheit, Individuum und Gesellschaft im Sinne einer christlichen und politischen Anthropologie sowohl im literarischen Werk wie in den Predigten von Gotthelf nach. Sie zeigt, wie sich Gotthelfs christliches Welt­ und Menschenbild zum einen mit anthropologischen Diskursen der späteren Aufklärungszeit über die Entwicklungsfähigkeit des Menschen und zum anderen mit einer postgoethezeitlichen bürgerlichen Anthropologie, in deren Zentrum die Bezähmung des Individuums stand, verbinden lässt. Bei Gotthelf habe entgegen der Annahmen der bisherigen Forschung nicht allein die Stellung des Menschen vor Gott im Zentrum gestanden, auch wenn die christliche heologie das Fundament seines Denkens und Schreibens bildete, so Heiniger. Ihm sei es vielmehr um die Frage gegangen, wie sich das Individuum frei und selbstständig entfalten könne, also um die Voraussetzungen für das sittliche Zusammenleben der Individuen innerhalb vorstaatlicher und staatlicher Institutionen: «Seine anthropologischen Erwägungen des zwar aufgrund seiner tierischen Anlage mangelhaften und daher erziehungsbedürftigen, aber grundsätzlich auch zur Mündigkeit erziehungsfähigen Individuums – zumal dem Menschen sowohl die Anlage zur Vernunft als auch ein Trieb nach Vervollkommnung bereits inhärent seien – sind die Basis für die Frage nach der Organisation des sozialen und politischen Lebens und der menschlichen Existenz im Staat.» (S.407) Die Grundthese von Heinigers Arbeit lautet daher, dass Gotthelf in seinem Werk und in seinen Predigten versucht habe, die liberalen Gedanken der Regeneration mit einem christlichen Welt­ und Menschenbild zu vereinen, und er vehement um eine Verbindung von Christentum und (frühbürgerlichem) Liberalismus gerungen habe. An der Stelle eines bislang von der Gotthelfforschung vermuteten «Umschlags» von einem aufklärerischliberalen Engagement in eine konservative bis reaktionäre Haltung seien vielmehr christlich­republikanische Grundüberzeugungen auszumachen, die Gotthelf auch angesichts des in Bern siegreichen Radikalliberalismus stets aufrechterhalten habe. Die Autorin legt dabei ein besonderes Augenmerk auf den Zentralbegriff der Mündigkeit des Bürgers und zeigt, dass den volksaufklärerischen Diskursen, die ins 18. Jahrhundert zurückreichen und im 19. Jahrhundert fortgesetzt wurden, eine entscheidende Bedeutung für ein Verständnis von Gotthelfs Wirken und Schreiben zukommt. Die christliche Volksaufklärung zielte für Gotthelf darauf ab, gewissermassen als «geistiges Rüstzeug» die Mündigkeit des Menschen herbeizuführen und ihn zum Gebrauch der politischen Errungenschaften von Freiheit und Gleichheit vorzubereiten. Mit der erlangten äusseren Freiheit sollte eine religiös verstandene innere Freiheit korrespondieren, die es den Bürgern ermöglichen sollte, sich uneigennützig am Gemeinwohl auszurichten. Sonst drohte die Freiheit nach Gotthelf zu einem Recht des Stärkeren zu führen. Heiniger nimmt in ihrer Arbeit eine präzise und überzeugende Analyse des Pfarramtsverständnisses von Gotthelf im Kontext der Volksaufklärung vor. Gotthelf habe die von der Volksaufklärung vertretene Forderung nach einer dem Volk angemessenen Sprache übernommen. Eine ideale Predigt zeichne sich für Gotthelf deswegen durch «Menschenkenntnis, existenzielle Nähe, Anschaulichkeit mittels einer ‹Lebenssprache›, die in einfachen, verständlichen Worten und einer dialogischen Redehaltung zum Ausdruck kommt, Wachrufen der Erkenntnis in den Zuhörern sowie Anleitung zur Selbst­ und Gewissensprüfung mit dem Ziel der Versittlichung des Einzelnen» aus (S. 117). Damit propagiere er eine am mündigen Bürger orientierte Didaxe, das Selbstverständnis als Prediger sei das eines Vermittlers zwischen Gott und den Menschen, der sich dem Fassungsvermögen seiner Zuhörer anpassen müsse.

Heinigers Arbeit bringt wesentliche Impulse für die Gotthelfforschung. Sie ersetzt nicht nur die mittlerweile überholten Studien von Eduard Buess (Jeremias Gotthelf. Sein Gottes- und Menschenverständnis, 1948), Karl Fehr (Das Bild des Menschen bei Jeremias Gotthelf. Die anthropologische Idee und ihre Entfaltung im dichterischen Werk, 1953) und Josef Maybaum (Gottesordnung und Zeitgeist. Eine Darstellung der Gedanken Jeremias Gotthelfs über Recht und Staat, 1960) nahezu vollständig, sondern eröffnet zukunftsweisende Perspektiven, indem sie es ermöglicht, die erneute Rezeption des klassischen republikanischen Tugenddiskurses um 1820/1830 im Umfeld von Philhellenismus und Neuhumanismus wesentlich auch auf Gotthelf zu beziehen. Meines Erachtens würde sich eine weitere Erforschung der Verankerung der Schriften Gotthelfs im zeitgenössischen politischen Diskurs sehr lohnen.

Zitierweise:
Lukas Künzler: Rezension zu: Heiniger, Manuela: Der mündige Bürger. Politische Anthropologie in Jeremias Gotthelfs Bildern und Sagen aus der Schweiz. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 3, 2018, S. 58-62.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 3, 2018, S. 58-62.

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